Predigt von Präses Dr. Marius Linnenborn bei der Wallfahrtsmesse
am 30. August 2025 in Telgte
Auf Pilgerwegen der Hoffnung
Von verschiedenen Orten haben wir weitere oder kürzere Wege nach Telgte zurückgelegt, und diese unsere Wege kreuzen sich heute bei der Schmerzensmutter und vereinen sich zu einem großen Pilgerweg der Hoffnung. Aber wir können auch sagen: Es gibt so viele Pilgerwege der Hoffnung wie es Menschen gibt. Und diese Wege bestehen aus unterschiedlichen Wegstrecken, dunkleren, die von Sorge und Schmerz, und helleren, die von Hoffnung und Zuversicht erfüllt sind. Das gilt für die Hoffnungswege, die Menschen heute gehen, genauso wie für die Hoffnungswege in früheren Zeiten.
Mir kommen Bilder in den Sinn von Familien, die im Gaza-Streifen wieder eine neue Bleibe suchen müssen. Von den Menschen in der Ukraine, die in Schutzräumen und U-Bahnhöfen Zuflucht suchen vor den russischen Angriffen. An vielen Orten unserer Erde verlassen Menschen ihre Heimat in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden.
Die Wege, die unsere Familien vor acht Jahrzehnten nach der Vertreibung gehen mussten, wurden, nachdem sie den ersten Schmerz des Verlustes verkraftet hatten, langsam immer mehr zu Wegen der Hoffnung: Hoffentlich werden wir nicht in den Osten transportiert, hoffentlich geht es für uns möglichst weit in den Westen. Dann die Hoffnung, Aufnahme und ein Obdach an einem sicheren Ort zu finden, auch wenn anfangs viele noch an die Rückkehr in die Heimat glaubten: Wann komm wer hääm?. Und schließlich, als sich das immer mehr als unrealistisch erwies, die Hoffnung, für die Familie eine neue Existenz aufbauen zu können, was dann auch durch Zusammenhalt, hohen persönlichen Fleiß und Einsatz gelingen konnte.
Heute tragen wir die Hoffnung im Herzen auf ein Ende von Krieg und Gewalt, auf Versöhnung und Frieden für die Welt; in unserem persönlichen Leben auf Hilfe und Stärkung in Alter und Krankheit, letztlich auf eine gute Sterbestunde und auf das Leben, das Gott uns schenken will, das immer viel größer und wunderbarer ist als wir es uns vorstellen können.
Auf unseren Pilgerwegen der Hoffnung haben uns Grafschaft Glatzern in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene Stationen Halt und neue Kraft gegeben: die gemeinsamen Treffen und Gottesdienste, die den Zusammenhalt immer wieder neu gestärkt haben; die Charta der Heimatvertriebenen vor 75 Jahren mit ihrem Verzicht auf Rache und Vergeltung; der Briefwechsel zwischen den polnischen und den deutschen Bischöfen am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 60 Jahren, in dem sie einander versicherten: Wir vergeben und wir bitten um Vergebung; die Wallfahrten in die Heimat seit der Öffnung der Grenzen Anfang der 90er Jahre; die Seligsprechung unseres Kaplans Gerhard Hirschfelder in Münster vor 15 Jahren, und natürlich immer wieder Telgte, nun schon zum 78. Mal.
Was ist es, das uns dabei Hoffnung gibt? Natürlich die Begegnung, das Wiedersehen; das Singen der Lieder, die von Kindheit an in uns eingesenkt sind; die Erfahrung von Versöhnung mit den Menschen, die heute in der Heimat leben, wofür sich unser Großdechant unermüdlich eingesetzt hat. Schließlich hier in Telgte der Blick auf die Schmerzensmutter, die uns Christus zeigt als Zeichen des Trostes und der Hoffnung; und damit die tiefe Gewissheit, dass auch wir Christus in uns tragen, der unser Heil und unser Leben ist.
Maria ist die große Pilgerin der Hoffnung, als sie selbst auf dem Weg zu ihrer Verwandten Elisabeth „guter Hoffnung ist“ und Christus in sich trägt (vgl. Evangelium Lk 1, 39–56). Als Pilgerin der Hoffnung geht sie all unsere Hoffnungswege mit und lässt uns nicht allein. So können auch wir einstimmen in ihren großen Lobgesang: Meine Seele preist die Größe des Herrn. Denn Gott tut Großes an uns! Nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute und morgen. Darauf dürfen wir fest vertrauen, denn er ist auf allen unseren Pilgerwegen der Hoffnung mit uns und führt uns hin zum Ziel, das er selbst ist.
Predigt von Pfarrer Christof Dürig (Frechen) bei der Andacht
am 30. August 2025 in Telgte
Nicht Traum, sondern Verheißung für alle
Viele Völker gehen / und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN / und zum Haus des Gottes Jakobs. Haus Jakob, auf, / wir wollen gehen im Licht des HERRN. (Jes 2,3a.5)
Es ist eine Vision, eine prophetische Verheißung, ein Traum: Menschen aus allen Nationen pilgern zu einem Ort, nach Jerusalem / zum Berg Zion, viele Völker machen sich gemeinsam auf den Weg – friedlich. Sie halten sich an die Weisungen Gottes, heute würden wir sagen: sie sind für die Menschenwürde und die Menschenrechte. Aus allen Himmelrichtungen kommen sie - aus Nord und Süd, aus Ost und West. Ein tolles Bild, das durchaus Gänsehautgefühle wecken kann.
Für mich kommt da der Weltjugendtag in Köln in den Sinn, der vor 20 Jahren stattgefunden hat, bei uns auf dem Marienfeld zwischen Kerpen und Frechen buchstäblich vor der Haustür. Gestern haben wir mit dem Berliner Erzbischof Dr. Heiner Koch, dem damaligen Generalsekretär, eine Messe auf dem Papsthügel gefeiert. Zahlreiche Erinnerungen wurden lebendig: Es war Wirklichkeit, nicht nur ein Traum! Es war einfach faszinierend, dass über eine Million Menschen aus allen Ländern der Erde durch unsere Straßen zogen, fröhlich singend und winkend, mit ihren Fahnen und Transparenten. Und keine Blume in den Vorgärten wurde zertreten, wie manche sehr skeptisch im Vorfeld bange befürchtet hatten.
Ja, eine Völkerwallfahrt ist möglich für Menschen guten Willens. Es sind „Pilger der Hoffnung“, wie 2025 als Heiliges Jahr von Papst Franziskus ausgerufen wurde und nun von Papst Leo fortgesetzt wird.
Pilger der Hoffnung sind auch wir hier und heute in Telgte. Die Gemeinschaft von Menschen, die im Namen des Herrn zusammenkommt, dürfen auch wir – in kleinerer Zahl – erleben. Dabei schließen wir Unzählige ein, mit denen wir im Gedenken und im Glauben verbunden sind; Tausende, die vor uns und mit uns hierhergekommen sind. Meine verstorbenen Eltern und meine Tante Angela gehören dazu. Sie hatten sich immer gefreut nach Telgte (und Werl) zu pilgern, zu beten, vor allem auch Verwandte und Bekannte aus „der alten Heimat“ zutreffen und innerlich ergriffen, die vertrauten (Marien-) Lieder zu singen. Sie haben teilgenommen, solange sie konnten und dabei – fern der geliebten Grafschaft – Stärkung in der Gemeinschaft erlebt.
Pilger der Hoffnung. Da kommt die Erinnerung, die Sehnsucht an das schöne Glatzer Land mit Maria Schnee oberhalb von Wölfelsdorf, wo die beiden Gauglitz-Mädchen (also meine Mutter und Tante) geboren wurden und aufgewachsen sind. Auch ich erinnere mich an den Gang auf den Spitzigen Berg 1993 während der Wallfahrt mit dem Großdechanten und wobei ich zum ersten Mal schlesische Erde betreten habe. Davor – im Kalten Krieg – in dem ich Kindheit und Jugend verbracht habe, war das alles so weit weg, schier unerreichbar! Und nun war ich dort, wo meine Familienwurzeln liegen und letztlich auch der Glaube gewachsen ist, den meine Eltern mir weitergeben haben.
Liebe Schwestern und Brüder, die Vision des Propheten Jesaja war sicher auch für ihn Jahrhunderte vor Christus weit weg, völlig unrealistisch. Aber Jesaja hat daran geglaubt – und diese Botschaft für alle Tage für Juden und Christen, für uns und auch zukünftige Generationen, in der Bibel hinterlassen! Welch großartiger Text – und dennoch so weit weg von heutiger Realität!
Vieles ist im christlichen Geist entstanden und gewachsen, die deutsche-französische Freundschaft, die Charta der Heimatvertrieben 1950, das Schreiben der polnischen Bischöfe an die deutschen Amtsbrüder 1965, der Zusammenbruch des Kommunismus, der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs mitverursacht durch das Wirken von Papst Johannes Paul II. Es ist etwas entstanden, was bis ins Jahr 1989 für die allermeisten undenkbar und völlig illusorisch war. Völker haben zueinander gefunden, Grenzen wurden überwunden, Brücken wurden gebaut zwischen Menschen und Völkern. Auch zwischen Deutschen und Polen! So viel Freundschaft ist entstanden, durch die vielen, die sich – wie der Großdechant - unermüdlich mit vielen kleinen Schritten in christlichem und humanistischem Geist für Verständigung und ein Miteinander eingesetzt haben. Grenzen verlieren ihre trennende Bedeutung und werden zu verbindenden Brücken. Das vereinte Europa ist entstanden. Eine Errungenschaft, ein Geschenk für unseren Kontinent, für die Welt! Unmögliches wurde Wirklichkeit! Das dürfen wir heute und in Zukunft nicht vergessen. Und daran glauben, beten und mitwirken, dass Ähnliches wieder geschieht!
Ich kenne viele Menschen in meinen Pfarrgemeinden, die heute Schlesien als ihre Heimat haben, die bei uns leben, ganz selbstverständlich dorthin fahren, Familie und Freunde besuchen und selbstverständlich auch polnisch sprechen… Neue Generationen. Alte und neue Heimat. Das gibt so vieles, was selbstverständlich geworden ist.
In den vergangenen Jahrzehnten sind Millionen Frauen und Männer, Jugendliche und Kinder nach Deutschland gekommen, die dasselbe Schicksal von Flucht und Vertreibung haben wie viele von ihnen – nur mit dem Unterschied, dass sie aus anderen Ländern und Kulturen kommen, oft auch mit einer anderen Religion. Bei allen Problemen, die andere Sprachen, Sitten und Gewohnheiten mit sich bringen und eine bleibende Herausforderung sind, sind die meisten Menschen eine Bereicherung für unser Land und ohne sie – die Menschen mit Migrationshintergrund (wie man heute sagt) – würde vieles zusammenbrechen.
Alle sind wir Menschen – im biblischen, jüdisch-christlichen Verständnis Ebenbilder Gottes, denen dieselbe Würde zukommt, die wir mit allen Menschen guten Willens schützen müssen! Oder wie es die vor kurzem mit 103 Jahren verstorbene Holocaustüberlebende Margot Friedländer aus tiefster Überzeugung gesagt hat: „Seid Menschen! Es gibt kein jüdisches, kein muslimisches, kein christliches Blut, sondern nur menschliches Blut.“
Deshalb ist es umso erschreckender, dass heute Nationalisten in vielen Ländern dieses wertvolle Gut in Frage stellen und letztlich zerstören wollen, sei es die PIS in Polen, Victor Orban in Ungarn, Le Pen in Frankreich, die AfD in Deutschland, der unberechenbare Großschwätzer und Egomane im Weißen Haus und manche andere!
Es ist kein Traum, sondern eine Verheißung für alle, die sich darauf einlassen:
„Am Ende der Tage – und das kann auch heute sein! - wird es geschehen: Der Berg des Hauses des HERRN / steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. / Zu ihm strömen alle Nationen. Viele Völker gehen / und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN / und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, / auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn vom Zion zieht Weisung aus / und das Wort des HERRN von Jerusalem“ (Jes 2,1–3).
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